Ist es richtig zu warten, bis die Kinder erwachsen sind?

Aus meiner Erfahrung gibt es keinen wirklich richtigen Zeitpunkt für eine Trennung. Es ist für Eltern immer schwierig, hier eine Entscheidung zu treffen und viele warten eben, bis die Kinder aus dem Haus sind …
So kann man es machen, es hat aber zur Folge, dass die Kinder oft sehr lange in einer konfliktbeladenen Familiensituation leben müssen. Streit der Eltern, Schuldzuweisungen, emotionale Kälte und andere destruktive Verhaltensweisen gehören zu ihrem Alltag und prägen ihr Leben …
Diese Erfahrungen haben dann im Erwachsenenleben viel stärkere Auswirkungen auf die Kinder als die Scheidung selbst. Kinder wachsen so in einem Stresslevel auf, das sie auf Dauer prägt, z.B. stets angespannt zu sein, sich verantwortlich zu fühlen, sich schuldig zu fühlen ….

Erwachsene Kinder brauchen Orientierung für ihr eigenes Leben

Zu warten, bis die Kinder aus dem Haus sind, hat aus meiner Sicht noch einen ganz anderen wichtigen Aspekt, der aus meiner Erfahrung heraus von Eltern sehr oft übersehen oder auch falsch eingeschätzt wird: wenn Kinder aus dem Haus gehen, sind sie zwar schon erwachsen aber sie beginnen zum ersten Mal damit, alleine zu leben. Sie orientieren sich hier noch ganz stark an ihrem vorausgegangenen Leben und ahmen nach oder grenzen sich ab = sie sind emotional noch ganz stark damit verbunden und ihre Autonomie muss sich erst noch entwickeln …
Wenn Eltern sich in dieser Phase trennen, verlieren die erwachsenen Kinder ihre Orientierungspunkte, an denen sie sich abarbeiten müssen und fallen oft in ein emotionales Loch. Dies entsteht auch ebenso bei den ersten Beziehungen …

Was muss grundsätzlich gesehen werden …

Eine Trennung/Scheidung der Eltern kann niemals losgelöst gesehen werden von dem Leben, dass die Familie miteinander verbracht hat. Ebenso muss berücksichtigt werden, welche Bedeutung Eltern überhaupt für ihre Kinder haben.
Wenn Kinder mit beiden Eltern aufwachsen, gehören diese als Fundament zu ihrem Leben, ungefähr so, wie ihr Arm zu ihrem Körper. Kinder wissen zwar, dass es Menschen mit einem Arm gibt, können sich das aber nicht für sich selbst vorstellen – ähnlich geht es ihnen mit einer Trennung ihrer Eltern.
Ihre Eltern gehören für sie zusammen zu ihrem Leben – das ist so eine Art Grundvertrauen, auf das sie ihr Leben aufbauen und dieses Grundvertrauen tief in ihnen gerät ins Wanken, wenn ihre Eltern sich trennen – ganz egal, wie alt sie sind!
Eine Trennung der Eltern geschieht nicht spontan und mal „eben so“ … Oft geht eine lange Phase der Ambivalenz voraus und diese geht einher mit Konflikten, Streit und eisigem Schweigen … Je länger diese Phase anhält, je destruktiver gestaltet sie sich häufig für alle Familienmitglieder und das manifestiert sich.
Bei einer späten Trennung spielen ganz fundamental diese Auswirkungen eine große Rolle und gar nicht mal so sehr die tatsächliche Trennung/Scheidung der Eltern selbst.

Können erwachsene Kinder eine Trennung anders verarbeiten?

Die Trennung der Eltern erleben Kinder grundsätzlich als Verlust ihrer Sicherheit. Ihre fundamentale Sicherheit gerät ins Wanken und ihr Grundvertrauen wird erschüttert. Damit können Kinder aufgrund von Alter und Entwicklung ganz unterschiedlich umgehen …
Auch erwachsene Kinder sind immer noch die Kinder ihrer Eltern! 
Durch ihr Erwachsensein verfügen sie natürlich über viele Lebenserfahrungen und ein ganz anderes Maß an Autonomie als Kinder. Ihre Abhängigkeit von den Eltern ist häufig viel weniger stark, sodass sie eine Trennungssituation mit größerer Distanz betrachten können als es Kindern möglich ist. In der Regel ist ihr eigenes Leben vom Leben der Eltern abgegrenzt – Kinder hingegen befinden sich mitten im Leben ihrer Eltern und sind in ganz alltäglichen Dingen davon abhängig, wie ihre Eltern ihnen zur Verfügung stehen.
Erwachsene Kinder können in der Regel nach dem ersten Schock eine eigene Haltung zur Trennung ihrer Eltern entwickeln – dies können Kinder in der Regel noch nicht.

Die emotionale Verwundbarkeit der erwachsenen Kinder wird oft unterschätzt

Aus meiner Erfahrung heraus ist das Ausmaß emotionaler Wunden nach einer späten Scheidung der Eltern sehr stark abhängig vom Ausmaß der eigenen Autonomie im Leben. Diese wiederum hat viel zu tun mit dem „Erleiden“ von destruktiven Familienverhältnissen, wenn Eltern diese nicht verändern können und dennoch sehr lange daran festhalten, weil sie warten wollen, bis die Kinder aus dem Haus sind …

Menschen, die sehr lange in belastenden Familienverhältnissen leben müssen, starten ihr eigenes Leben auch sehr belastet und es ist dann gar nicht so einfach, eine wirkliche Autonomie zu entwickeln … Die Verwundbarkeit ist hier größer. 

Je größer die eigene Autonomie ist, je höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass erwachsene Kinder sich abgrenzen können. Ja, sie können sogar eine eigene Haltung entwickeln und mit den Eltern in die Auseinandersetzung gehen.

Was kann helfen?

Eine Trennung/Scheidung ist ja immer eine sehr emotionale Situation mit einem enormen Veränderungspotenzial – letztendlich für alle, nicht nur für die Eltern. Dies verlieren Eltern von erwachsenen Kindern leicht aus dem Blick, da sie ihre Kinder ja schon für erwachsen halten – was immer sie auch darunter verstehen …

In solchen Situationen ist es durchaus üblich, dass sich Familienmitglieder unterstützen und füreinander da sind. Dies kann emotional anstrengend sein und sich dennoch richtig anfühlen.
Wenn einzelne oder auch alle Familienmitglieder feststellen, dass irgendetwas sich falsch und belastend anfühlt, sollten sie den Mut aufbringen und ihre Kraft für sich selbst investieren, indem sie sich mit diesen Gefühlen auseinandersetzen!


Konkret helfen hier Gespräche mit Menschen, die von außen auf die Situation schauen können – Menschen, die nicht selbst betroffen sind. Es gilt herauszufinden, welche Rollen und Verhaltensweisen konstruktiv und hilfreich sind und wo die eigenen Bedürfnisse und Grenzen liegen.

Hier spielt es für alle Familienmitglieder eine wichtige Rolle, wieder zur eigenen Autonomie finden zu können und dennoch füreinander da zu sein.

Familientherapie kann hier hilfreich sein!

Elke Wardin
Systemische Familientherapeutin

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